Treibjagt im Gemeindeamt

Birgit Grimm in Sächsische Zeitung, 23. 09. 20000
 
Bürger und Künstler Schreiben am „Barockhaus – Aktualisierte Ausgabe 2000“ mit

Kann es sein, dass die Moritzburger sich beklagen, der Tourismus ginge am Ort vorbei, weil Busreisende immer nur eine Stippvisite ins Jagdschloss machen?
Wer besser zu Fuß ist, streift vielleicht durch die Wälder. Dort findet er Beeren und Pilze und manchmal auch zufällig Schätze der Wettiner. Und neuerdings trifft er am Rande der Gemeinde auf zwei gewaltige hölzerne Ross – Silhouetten oder kann bei einer Rast auf der „Blauen Bank“ am Dippelsdorfer Teich verinnerlichen, warum es die Brücke – Künstler einst so fröhlich trieben. Und da haben wir das Dilemma, denn schon entfernen wir uns in Gedanken von den Moritzburgern von heute. Allerdings erhebt sich die Frage, ob sie es sich wirklich gefallen ließen, wenn die Touris sich mehr für ihre Vorgärten und Vorhänge interessierten als für die Ledertapeten im Schloss.
Der Dresdner Künstler Andreas Paeslack hat deshalb einen Wettbewerb ausgeschrieben. Die Bürger sollten Modelle von ihren Lieblingshäusern, Schuppen, Telefonzellen, Hundehütten und anderen Sehenswürdigkeiten des Ortes bauen – bei freier Wahl von Material und Technik. Und es funktioniert: Die Touristen bleiben verwundert stehen – allerdings nicht im Ort, sondern im Steinsaal des Barockschlosses. Dort sind die Volkskünstlerischen Arbeiten um das hölzerne Schlossmodell von 1590 versammelt und die Besucher aufgerufen, zwischen der Kirche aus Salzteig und dem Rüdenhof aus Pappe und dem Leuchttürmen aus Keramik zu wählen. Es gibt einen Publikumspreis. Paeslack hat hierfür sein Honorar gestiftet. Er hatte gemeinsam mit Jens Herrmann auch die Idee für das Projekt „Barockhaus – Aktualisierte Ausgabe 2000“. Zehn Künstler jubelten dem Schloss und der Gemeinde ihre Werke unter. Bürgermeister und Schlossdirektorin haben sich aktiv an diesem subversiven Akt beteiligt. Sogar im Gemeindeamt wird mit Kunst gearbeitet: Jan Grossmann hat dem Bürgermeister eine „Treibjagd“ als Bildschirmschoner auf dem PC geladen.
 

Atompilztorte und Stein des Anstoßes

 
Die lebensgroßen bunten Rehe, die Reinhard Doubrawa zur „Fütterung“ ins Kurfürstenzimmer stellte, sind eine Attraktion für die Kleinen. Bunte Glitzertierchen, kennen sie aus der Werbung und Kühe auch. Trotzdem hat Wolfram Höhne ein Rindvieh fotografiert. Was heißt hier Rind? Das Tier ist ein Held der Arbeit. Man schreibt ihm 19 000 Nachkommen zu. Und hat ihn fürs Foto extra gewaschen und geföhnt. An seinem Platz im Kupferzimmer hing einmal das Gemälde eines Bullen aus dem 18. Jahrhundert: Was macht der Zuchtbulle im kupfernen Kochgeschirr.
Ausgesprochen hinterlistig ist die Arbeit von Jens Herrmann im Porzellanzimmer – aber auch sie funktioniert. Erklärt doch ein Besucher seiner Begleiterin, Herrmanns Porzellan sei eine frühe Arbeit aus der Meißener Manufaktur. Würden sie das Schild lesen, würden sie erschrecken. Der Künstler serviert eine „Atompilztorte“. <Mit Leckerein in Atompilzformen feierten amerikanische Offiziersfamilien vor 55 Jahren den ersten Atombombenabwurf auf Hiroshima.
Kunst muss eine Botschaft haben, und sie braucht einen Adressaten jenseits der Akademien, Galerien und Museen, meint Jens Herrmann. Ihn stört, dass so vieles an Kunst im öffentlichen Raum an den Menschen vorbei geht. Weil das Werk keine Aussage hat, weil es am falschen Platz steht, weil der Künstler und der Architekt sich zu sehr mit sich selbst beschäftigen, statt ein gesellschaftliches Problem zu lösen, sagt Herrmann. Und aktualisierte – da sind die Künstler Männer der Tat – zusammen mit Andreas Paeslack ein Denkmal:
Der Moritzburger Käthe –Kollwitz –Gedenkstein war fast zugewachsen, bis das Künstler-Duo einen Stein des Anstoßes darauf setzte. Es ist ein Findling auf dem in Goldschrift Steht: „Versteinerte Humanität. Dem institutionellen Kunst- und Kulturbegriff gewidmet“. Das die Gemeinde nun den verwilderten Platz um den Gedenkstein in Ordnung bringen lässt, ist eine merkwürdig direkte Wirkung von Kunst.