Jens Herrmann, Wolfram Höhne,
Andreas Paeslack über das Projekt "Simultane Perspektiven",
dauerhafte Rauminstallation auf dem Ernemannturm der Technischen Sammlungen
Dresden
Die Ernemannwerke - eine Industrie für
die Bildproduktion
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Ernemannturm der Technischen
Sammlungen Dresden |
Der Ernemannturm ist Teil einer weitläufigen
Industriearchitektur im Osten der Stadt Dresden. Die Fassade des Gebäudes
trägt die zurückhaltenden architektonischen Züge früher
Stahlbetonbauten. Es ist vor allem der Eckturm, der diesem Bauwerk der
Architekten Högg& Müller seine charakteristische Gestalt
gibt. In Anlehnung an die amerikanische Hochhausarchitektur dieser Zeit
gliedern dichte Fensterbändern die Fassade. Den Abschluss des Turmes
bildet eine Kuppel, die eigentlich eine Sternwarte beherbergen sollte.
Seit den 20er Jahren produzierte man in diesem Gebäude fotografische
Apparate, wie beispielsweise die bekannten Ernemann-Kinoprojektoren. Die
Investition in das damalige Neuland der massenmedialen Produktion von
Bildern, war ein Wagnis, getragen von den Hoffnungen auf eine umfassende
Veränderung der Lebenswelt in dem bevorstehenden Zeitalter der technologischen
Revolutionen. Die Ernemannwerke durchlebten eine wechselvolle Geschichte,
die eng verbunden ist mit der Entwicklung optischer Geräte, die visuelle
Eindrücke und Informationen erzeugen oder bewahren sollten. Dazu
zählten Artikel für die Unterhaltungsindustrie, wissenschaftliche
Apparate, wie auch Kriegsgerät. In den Nachkriegsjahren war die Entwicklung
des Pentaprismas eine bedeutende Station in der Firmengeschichte, die
dem entstehenden volkseigenen Betrieb seinen neuen Namen gab. Zumindest
für die Fotografen der Welt ging damals ein Wunsch in Erfüllung:
die Welt richtig zu sehen. Richtig bedeutete in diesem Fall einfach nur
seitenrichtig, denn in den bisherigen "Lichtschächten"
der Kameras ließen sich einzig seitenverkehrte Bilder erzeugen.
Unter dem Namen VEB Pentacon begann man damals erneut die Produktion fotografischer
Artikel, die als Firmensignet eine Abbildung des Ernemannturmes trugen.
In der Form des Firmenlogos avancierte die Bauform des Turmes mit seiner
erhöhten Kuppel zu einem Symbol der Visualisierung von Welt, wie
sie optische Apparate realisieren. Nachdem man Anfang der 90er Jahre die
Produktion optischer Apparate eingestellt hatte, erhielten die Technischen
Sammlungen der Stadt Dresden in den ehemaligen Produktionsstätten
neue Ausstellungsräume. Eine Vielzahl von Exponaten zur Industriegeschichte
des sächsischen Raumes werden dem Museumsbesucher in wechselnden
Ausstellungen vorgestellt. Das Projekt "Simultane Perspektiven"
ist der gemeinsame Versuch mehrerer bildender Künstler, eine Arbeit
zu entwickeln, die das Gebäude mit seiner besonderen Bedeutung für
die Geschichte
Die künstlerische Arbeit im Bezugssystem
der Öffentlichkeit
Im September 2001 fand im Rahmen des 3. Metallguss-
Symposiums der Stadt Dresden eine Ortsbegehung statt. Man stellte den
beteiligten Künstlern die Turmräume des Ernemannbaus als einen
möglichen Ort für die Präsentation künstlerischer
Arbeiten vor. Der Grundgedanke des Symposium war es, in einem kollektiven
Arbeitsprozess ein Resultat entstehen zu lassen, dessen Gestalt weniger
von der individuellen Handschrift der einzelnen Künstler bestimmt
ist, als vielmehr eine Reflexion des Ortes und der Situation des Projektes
gemeinsam mit den individuellen künstlerischen Statements ins Bild
setzen sollte. Durch die Veranstaltungsform des Symposiums stellte man
uns ein Kontingent an Mitteln zur Verfügung, das im Wesentlichen
aus einem Arbeitsstipendium, dem Materialvolumen von 50 kg Bronze pro
Person, dem handwerklichen Potential der Firma Bildguss Gebr. Ihle und
eben dem beschriebenen Ausstellungsort des Ernemannturmes bestand. Wir
formulierten unsererseits den Anspruch, eine Arbeit entstehen zu lassen,
die nicht der bloßen Selbstpositionierung einzelner Autoren innerhalb
der künstlerischen Institutionen dienen sollte, wie es beispielsweise
die Produktion von Einzelstücken für die Präsentation in
Galerien gewesen wäre. Vielmehr wollten wir eine Arbeit leisten,
die für einen öffentlichen Ort konzipiert ist, durch die Öffentlichkeit
genutzt werden kann und dadurch die Investition öffentlicher Gelder
nicht in dem Geflecht künstlerischer Institutionen versickern lassen
sollte, das von privaten Profilierungsabsichten geprägt ist.
Aussichtspunkte: Versunkene Sehsucht und die
Rekonstruktion mentaler Bilder
Bereits in der Ausschreibung des Symposiums hatte
man die Technischen Sammlungen als Kooperationspartner und möglichen
Punkt innerhalb der Dresdner Öffentlichkeit benannt, auf den sich
die künstlerische Erarbeitung beziehen sollte. Der Ernemannturm rückte
dadurch in den Fokus unserer Erwägungen. Der erhöhte Standpunkt
der Plattform gibt den Besuchern die Möglichkeit, der Einengung des
Blickes zu entfliehen, wie man ihn in der Wahrnehmung des Stadtraumes
erlebt. Man verlässt für einen Augenblick die architektonische
Formenwelt der Stadt, um auf dem Turm einem Naturbild zu begegnen. Die
Stadt ordnet sich hier in die geologische Struktur einer Landschaft ein,
die von den meteorologischen Phänomenen einer umspannenden Himmelskuppel
umgeben ist. Das Häusermeer zu Füßen des Betrachters reduziert
sich auf dem Turm zu einer Ansicht, in der das städtische Leben selbst
beinahe vollständig verschwindet. Man sieht hinab auf die urbanen
Strukturen, die dem Besucher als ein Bild erscheint, das einerseits eine
kontemplative Betrachtung hervorruft und zum anderen das Bedürfnis
erweckt, die ineinander verworfene städtische Landschaft in einzelne
Punkte des persönlichen Interesses aufzuschlüsseln. Das Phänomen
der Perspektive erschwert es dabei selbst Ortskundigen, einzelne Punkte
der städtischen Topografie zu identifizieren. Diesen Umstand kann
man leicht daran erkennen, dass die meisten Turmbesucher ihre Zeit damit
verbringen, bestimmte Punkte im Stadtpanorama wiederzufinden. Der Grund
für diese merkwürdige Ratlosigkeit ist in der Konstitution mentaler
Bilder bedingt. So verfügen wir bereits über ein konkretes Bild
der Stadt in unserer Vorstellung, bevor wir die Aussichtsplattform überhaupt
betreten haben. Wie es M. Downs und D. Stea in ihrem Buch "Kognitive
Karten" beschrieben haben, gibt es keinen Generalschlüssel zu
komplexen Phänomenen, wie es beispielsweise die Topografie einer
Stadt ist. Vielmehr finden wir uns durch eine Konstellation von Orten
zurecht, mit denen wir durch unsere Erfahrung konfrontiert sind. Für
den Fremden können dies der Bahnhof, bestimmte Sehenswürdigkeiten
oder weithin sichtbare Orientierungspunkte sein, während der Einheimische
den Wohnort, ein Einkaufszentrum oder seine Arbeitsstelle bevorzugen wird.
Dieser Schatz an persönlichen Erfahrungen leitet also unsere "Interpretation"
des panoramatischen Bildes auf dem Turm und führt dazu, dass sich
unsere Betrachtungen des Stadtbildes erheblich voneinander unterscheiden
und wir bei einem Blick hinab von einem erhöhten Standpunkt nie das
vorfinden, was wir zuvor vermutet haben. Aus dieser Beobachtung resultierte
in unserer künstlerischen Betrachtung das Bedürfnis nach einem
"Panoramaschild", das durch einzelne Einträge dem Besucher
die Stadt vorstellen sollte. Seitens der Technischen Sammlungen wurde
das Panoramaschild als eine erwünschte Ergänzung der Aussichtsplattform
aufgenommen.
Der Begriff der "Simultanen Perspektiven"
In der folgenden Zeit widmeten wir unsere Aufmerksamkeit
der Frage, anhand welcher Punkte die Stadt Dresden charakteristisch vorgestellt
werden könnte. Wir luden dazu mehrere Personen ein, die für
uns in unmittelbarer Anschauung des Stadtpanoramas Führungen hielten.
Wiederum zeigten sich Interpretationen von differenziertem Charakter,
die wir fortan in unseren Gesprächen als "Simultane Perspektiven"
bezeichneten. Die Referenten begründeten ihre Ausführungen nicht
einfach nur auf der Sichtbarkeit der Phänomene, über die sie
sprachen, sondern zogen ebenso das Reservoir ihrer Erinnerung und ihres
persönliche Wissens heran, um sich beschreibend dem Panorama zu nähern.
Dort wo wir im Augenblick Neubaublöcke sahen, ließen die Vortragenden
in unserer Vorstellung verschwundene Dorfkerne entstehen. Einfache Grünflächen
erzählten von militärischen Erwägungen, die einst die Stadtplanung
bestimmt hatten, unscheinbare Färbungen auf dem Dach der Versöhnungskirche
deuteten auf den Einschlag von Brandbomben in der Nacht der Zerstörung
Dresdens hin und zukünftige Bauplanungen erschienen auf brachliegenden
Flächen. Was uns blieb, war die schwierige Frage, welche Informationen
von uns prämiert werden sollten und somit die Identität des
Panoramas definieren würden. Das steinerne Häusermeer jedenfalls
blieb die Antwort auf diese Frage schuldig. In der Vogelperspektive mit
ihrer anschaulichen Wiedergabe von Zusammenhängen und Strukturen
bleiben die Details verborgen.
Mit den Augen der Anderen sehen
Das von uns thematisierte Bild der Stadt sollte
nicht einseitig durch eine Betrachtung aus der Vogel- oder auch Feldherrenperspektive
bestimmt sein. Der fassadenähnliche Charakter des Panoramas, wie
es der Blick vom Ernemannturm aus zeigt, löste in uns den Wunsch
aus, mit den Augen der Anderen sehen zu können. Wir initiierten daraufhin
eine Postkartenaktion, für die wir zehntausend Postkarten in der
Stadt verteilten. Auf den Postkarten versuchten wir, die Dresdner Bevölkerung
für eine Mitwirkung an unserem Projekt zu gewinnen. Auf unseren Aufruf
hin erhielten die Empfänger der Postkarten die Möglichkeit,
die Stadt Dresden anhand einer Fotografie vorzustellen. Es sollte ein
Bild entstehen, das sich von den geläufigen Darstellungen einer Stadt
unterscheidet, wie sie Bildbände oder Touristenführer zeigen.
Mehr als dreihundert Fotografien erreichten daraufhin die Technischen
Sammlungen. Ohne die Anwendung gesellschaftspolitischer Interessen oder
so genannter Qualitätsmerkmale werden alle Einsendungen in Form einer
Tapete in den Turmräumen präsentiert. Das Muster aus aneinandergrenzenden
Fotografien zeigt die Innenansicht der Stadt, die bei einem Blick vom
Turm hinab verborgen bleibt. Zwischen dem panoramatischem Ausblick auf
der Aussichtsplattform und der Innenansicht der fotografierten Stadt entsteht
ein Blickwechsel, den der Turmbesucher mit der Erinnerung an die zuvor
betrachteten Szenen des städtischen Lebens betrachtet. Man kann das
Panorama der Stadt mit einer Bibliothek vergleichen: Der Reichtum an Wissen,
der in den Regalen verborgen ist, wird beim Anblick der Bücher spürbar,
aber erst mit dem Zugriff auf ein Buch kann er sich entfalten. Das Panorama
der Stadt ist ein Bild für die scheinbare Anwesenheit einer Sammlung
unsichtbarer Bilder.
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Ein Besucher verfasst seinen
Vorschlag für eine Inschrift des Bronzerahmens |
Die Anschauung wird bestimmt durch die Identität
des Betrachters
Unsere Arbeit innerhalb des Symposiums glich
einer Untersuchung des Blickes. Das Licht, welches sich an den visuellen
Attraktionen des Panoramas reflektierte, bildete zwar voneinander verschiedene,
jedoch sehr konkrete Eindrücke bei seinen Betrachtern ab. Während
eines Volksfestes in den Turmräumen versuchten wir Material zu gewinnen,
aus dem wir eine bestimmte Interpretation des Stadtpanoramas entwickeln
wollten. Wir verteilten Aufkleber an die Besucher und baten darum, wichtige
Punkte im Stadtbild auf dem Geländer der Aussichtsplattform zu markieren.
Wiederum entfaltete sich ein breites Spektrum von Informationen. Unter
den Kommentaren waren persönliche Statements wie "Forschungszentrum
Rossendorf - Grab meines Geistes" oder "Weißer Hirsch
- da wollen wir mal wohnen" zu lesen. Einkaufstips wie "Der
beste Döner: Uhlandstraße nähe HTW", Sympathiebekundungen
wie "Weserstadion in Bremen", Situationsberichte wie "Roter
Ballon im Stand", sowie eine Vielzahl sachlicher Beschreibungen besonderer
Orte der Stadt waren auf dem Geländer des Turmes zu lesen. Wir besaßen
jetzt zwar ein reichhaltiges Material möglicher Beschreibungen der
Stadt, verfügten aber immer noch nicht über geeignete Kriterien,
daraus bestimmte Statements auszuwählen, um sie auf dem Panoramaschild
zu verewigen. Die Silhouette der Stadt stellte sich als eine Projektionsfläche
unzähliger Gedanken dar, die sich zudem noch unter dem Einfluss der
Jahreszeiten, der Lichtverhältnisse, der baulichen Veränderungen
und der Konstellationen des täglichen Lebens veränderte. Wir
hatten es mit einem Bild zu tun, das einzig durch den Standpunkt des Betrachters
definiert ist.
Den Materialbegriff des künstlerischen Bildes verlassen
In diese Zeit der Ideenfindung fiel ein gemeinsamer
Besuch der Dresdner Gemäldegalerie. Für unsere Arbeit als Künstler
ist die Suche nach interpretativen Zugängen zu den Bildformen, die
wir produzieren, ein wesentliches Element der Arbeit. Dieses Kriterium
behält auch uneingeschränkt seine Gültigkeit, solange wir
es mit konkreten Materialformen zu tun haben, wie es beispielsweise Ölbilder
sind. Die mentalen Bilder, wie sie jedoch unsere Untersuchung auf dem
Ernemannturm zu Tage gefördert hatte, verweigerten sich unserer künstlerischer
Interpretation, denn sie wäre nichts anderes als Ideologie geblieben.
Unsere Mitteilung an den Betrachter sollte sich nicht darauf beschränken,
eine Auswahl von Orten oder Begebenheiten vorzustellen, sondern vielmehr
einen Bildbegriff zu beschreiben, der mehr als eine in das Material eingeschriebene
Information zeigt. Es ging um eine Demonstration, welche die Bildung von
Anschauung an sich verdeutlicht. Bei der Betrachtung von städtischen
Szenen auf den Gemälden Canalettos entdeckten wir in der Rahmung
eine Form, die den Bildraum als solchen definiert. Der Rahmen eines Bildes
umreißt einen Ausschnitt der Welt, der nach den Empfindungen des
Bildautors gestaltet ist. Die Fläche im Innenraum des Bilderrahmens
zeigt die Welt, wie sie mit den Augen des Künstlers gesehen wird.
Die Wirklichkeit bleibt im Gegensatz dazu der eigenen Anschauung vorbehalten.
Diesem Gedanken folgend, erhielt unsere Arbeit an einem Panoramaschild
für den Ernemannturm die Form eines historischen Bilderrahmenprofils,
das auf dem Geländer des Turmes entlangläuft und mit der Bildseite
auf die umgebende Stadtlandschaft zeigt. Das von uns ausgewählte
Rahmenprofil stammt aus der Zeit des sächsischen Rokoko und wird
unter Fachleuten "Dresdner Galerierahmen" genannt. Vom sächsischen
Fürstenhaus in Auftrag gegeben, sollte der Rahmen die Gemälde
der fürstlichen Sammlungen erkennbar machen und durch seine luxuriöse
Form als wertvolle Schöpfung ausweisen. Unsere Anwendung des historischen
Formzitates verweist auf die Identität des Betrachterstandpunktes.
Er vergegenwärtigt dem Betrachter seine momentane Situation und eröffnet
den Blick über diese hinaus. Der bronzene Rahmen beschreibt die Verschiedenheit
der mentalen Bildwelten. Das Wissen um diesen Unterschied kann als ein
Instrument des gegenseitigen Verständnisses dienen, dessen Verwendung
in unserer Zeit tiefer kultureller Konflikte und ideologischer Behauptungen
zukünftige Probleme zu lösen vermag.
Zeithorizonte - warum die historische Form in
der Gegenwart mehr als bloßer Traditionalismus sein kann
In der Februarausgabe der Illustrierten "Dresdner"
erschien eine Rezension der noch in Planung befindlichen Arbeiten am Projekt.
Der Autorin Susanne Altmann beschrieb darin die von uns geplante Materialform
des Projekts als "dedizidiert (âzueignendÕ, Anm. des
†bersetzers) retrospektive Umfassung" der Stadt Dresden. Darin
drückt sich die Auffassung aus, das die Verwendung eines historischen
Formzitates nichts weiter als ein konformistischer Rückblick auf
die Geschichte wäre. Würde man diese Feststellung unreflektiert
weiterführen, so könnte man eine ansehnliche Namensliste an
Traditionalisten zusammenstellen, die von Tübkes historischer Malereiauffassung
bis zur Wiederentdeckung der antiken Formenwelt durch die Meister der
Renaissance reicht. Wie sich zeigt, bedarf es einer komplexeren Betrachtung
der Vergangenheit, um ihr Wiederauftauchen in unserer Gegenwart zu beschreiben.
Ein mögliches Modell für diesen Zweck ist es, unsere Kulturgeschichte
als ein Ideengebäude zu beschreiben, das sich mit dem Fortschreiten
des Gegenwartspunktes in ständiger Erweiterung befindet. Man stelle
sich also die Menschheitsgeschichte als die Baustelle eines unfertigen
Gebäudes vor. Der Wechsel der Generationen wäre dann vergleichbar
mit unterschiedlichen und damit auch verschieden qualifizierten Baufirmen,
die sich geeignete Plätze suchen, um anzubauen. Es entstehen prachtvolle
Flügel und neue Etagen, aber auch verkümmerte Bauten von mangelnder
Statik. In unserer Gegenwart sind wir nun selbst an der Reihe das Werk
vorangegangener Epochen weiterzuführen. Seit kurzem bestimmen jedoch
Bauleiter und Poliere den Ablauf der Bauarbeiten, die streng auf die Einhaltung
des Denkmalschutzes achten. Unfertige Bauten sollen als Kunstruinen erhalten
bleiben, Abstandflächen müssen eingehalten werden. Der Raum
für unsere eigenen Planungen ist auf eine Restfläche zwischen
den Gebäuden der Vergangenheit geschrumpft. Nach jenem Modell kann
die ausschließliche Bewahrung von Tradition nicht als Erfolgsmodell
unserer Kultur verstanden werden. Es gilt, nicht der Asche zu huldigen,
sondern das Feuer weiter zu tragen. Dort wo Ideengebäude bewohnbar
sind und ihre Fundamente für die Errichtung eines Gebäudes taugen,
ist Vergangenheit für unsere Gegenwart von Bedeutung. Die falsch
verstandene Tradition aber bringt Regelwerke hervor, die uns den Umgang
mit unserer Geschichte verwehren. Der Bronzerahmen auf dem Ernemannturm
versucht, über seine Materialsprache ein Modell für die Wechselbeziehung
zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vorzustellen. Er gibt den
Besuchern des Turmes die Möglichkeit, diese Zeithorizonte nachzuvollziehen:
In den Turmräumen begegnen diese in Form der Fototapete den Bildsequenzen
der fotografischen Szenen aus dem Leben der Stadt. Die Fotografien stammen
aus dem Bereich der jüngsten Vergangenheit, beginnend mit Aufnahmen
aus den vierziger Jahren. Im Ansteigen des Bilderstroms in Richtung unserer
Gegenwart zeigt sich die Perspektive der Zeit. Vergleichbar einer Lupe
bildet sie unsere Gegenwart scharf ab, Vergangenheit und Zukunft verschwinden
jedoch mit zunehmender zeitlicher Distanz in opaker Unschärfe. Daraufhin
betritt der Besucher die Aussichtsplattform, die von den Architekturformen
der zwanziger Jahre bestimmt ist. Dort wo die Oberkante des Turmgeländers
endet, setzen die Halterungen des Rahmens an, die in ihrer Formensprache
auf unsere Gegenwart verweisen. Der bronzene Rahmen zitiert die vergangene
€ra des wettinischen Fürstenhauses, die wesentlich die Identität
der Stadt geprägt hat. Auf den einzelnen Panoramaschildern wiederum
zeigt sich die Gegenwart in den Einträgen der Förderer und bildet
damit den Abschluss des Materialkonglomerats. Bei einem Blick auf die
gerahmte Stadt sieht der Besucher ein Bild, das dem Augenschein nach ruht,
sich dem Wissen nach aber in stetiger Veränderung befindet. Dieser
scheinbare Stillstand macht das Bild der Stadt zu einer Projektionsfläche,
aus der wir durch unsere Vermutungen eigene Vorstellungen entwickeln können.
Mit den ins Bild gesetzten Zeithorizonten wird ein Modell ersichtlich,
wie wir in Zukunft Selbstverständnis und Weltanschauung gründen
können.
Das Kunstwerk als Instrument der Öffentlichkeit
Ein Wesenszug üblicher Kunstgegenstände
ist es, keine Anwendungsoptionen aufzuweisen. Allein die ständig
andauernden Sicherungsarbeiten an der Genregrenze zwischen den Disziplinen
Kunst und Design belegen die Richtigkeit dieser Aussage. Klimatisierte
Depots, abgedunkelte Räume und bewaffnetes Wachpersonal bestimmen
den Umgang mit den als künstlerisch wertvoll bestimmten Artefakten
unserer Kultur. Die Aura von Kunst, die Walter Benjamin noch als einen
unsichtbaren Begleiter von Kunstwerken beschrieb, kann man heute in dem
beschriebenen Bewahrungsaufwand der Kulturverwalter als Materialform bestaunen.
Die Werke selbst aber werden eingeklemmt in diesem Korsett einer in die
Vergangenheit orientierten Kultur, sie erstarren und verlieren an tatsächlicher
öffentlicher Bedeutung, insbesondere, wenn man sie bereits unter
den Kriterien der Vergangenheit produziert hat. Wer als Künstler
nicht über die Rückendeckung des kulturwissenschaftlichen Personals
verfügt, hat überdies Schwierigkeiten, den Wert seiner Arbeit
angemessen zu bestimmen. Zu dem wissenschaftlichen Bewertungssystem für
Kunst in unserer Gesellschaft stellt die öffentliche Funktion von
Kunst eine Alternative dar. Im Fall unserer Arbeit für den Ernemannturm
haben wir den Gedanken der Beschreibung des Stadtbildes durch die Eintragung
markanter Punkte in die Hände der Öffentlichkeit gelegt. Es
besteht die Möglichkeit, gegen die Zahlung eines Betrages in Höhe
von 777 Euro, ein Schild auf dem 33m messenden Panoramarahmen zu erwerben
und damit auf einen selbst gewählten Ort zu verweisen. Der Erlös
aus dem Verkauf der Schilder wird für die Sanierung des Gebäudes
verwendet. Die Schilder auf dem Ernemannturm werden verkauft an diejenigen,
die unsere Gegenwart durch ihr Engagement für eine Sache oder auch
ihre wirtschaftliche Kraft bestimmen. Eine Interpretation des Stadtpanoramas
wird sich selbst zeichnen und als konkrete Gegenwart auf dem bronzenen
Rahmen abbilden.
Kooperative Kunstprojekte sind ein Gegenmodell
zur autonomen Kunstproduktion
"Die Kunst ist frei" lautet das Statement,
welches sich hinter dem Begriff der künstlerischen Autonomie verbirgt.
Das autonome Selbstverständnis entstand aus dem Wechsel der gesellschaftlichen
Verhältnisse, der mit der Entstehung des Kapitalismus verbunden gewesen
ist. Im Zuge der Verschiebung gesellschaftlicher Machtverhältnisse
änderten sich damals auch die Produktionsbedingungen für Künstler.
Ehemalige Auftraggeber künstlerischer Arbeit, wie es Fürstenhäuser
oder der Klerus waren, begannen wegzubrechen, und mit ihnen verschwanden
auch die ökonomischen Voraussetzungen der damaligen Künstlerschaft.
Es entstand die neue Situation, für einen freien Markt mit unbestimmten
Kriterien produzieren zu müssen. Die öffentliche Ausstellung
von Kunst und die Erhebung von Eintrittsgeldern entstand als eine Form
des Broterwerbs, die sich als künstlerische Praxis bis in unsere
Zeit erhalten hat. Mit immer neuen Innovationen suchen Künstler seither
nach Anerkennung auf dem unberechenbaren Feld des Kunstmarktes. Als ein
Antipode zur Auftragskunst der vorbürgerlichen Zeit ist die Autonomie
zu einem Qualitätsmaterial der Kunst avanciert. Die Selbstbestimmung
der Kunstproduktion begann sich zu einem Widerstand gegen alle nur denkbaren
formalen und gesellschaftlichen Konventionen zu entwickeln. Unter dem
Programm das Innere sichtbar zu machen, schrieb sich die Subjektivität
als solche in die künstlerische Formenwelt ein, wobei der direkte
Bezug zu gesellschaftlichen Fragestellungen vernachlässigt blieb
und durch die Interpretationsversuche der Kunstwissenschaft legitimiert
werden musste. Die vermeintliche Subjektivität, die so entstanden
war, ist sehr bald in eine Einebnung des Subjektiven übergegangen,
weil sie sich den Erfordernissen des Kunstmarktes unterwirft. Verloren
aber hat die Kunst auch ihre Relevanz für eine breite Öffentlichkeit,
die den intellektuellen Verstrickungen der Erklärungsmodelle nicht
länger folgen wollte. Kunstproduktionen, die aus der gemeinsamen
Anstrengung mehrerer Autoren entstanden sind, widersprechen dem inzwischen
vollständig etablierten Kriterium der Autonomie. Im Betriebssystem
Kunst wird vor allem mit Materialformen operiert, die man mit der Individualität
ihrer Autoren verbindet. Der Gedanke kooperativer Produktionen, wie er
hier vorgestellt wird, muss sich gegen diese historischen Vorprägungen
der Institution behaupten. Dies wird dadurch erschwert, weil es sich um
eine Erarbeitungsform handelt, die mit der Suche nach Ansatzpunkten für
eine Einbeziehung realer Parameter beginnt und sich gegen eine bereits
ausformulierte Formenwelt autonomer Prägung behaupten muss. Kooperative
Projekte stellen die Gegenfrage zum arrivierten Künstlerselbstverständnis,
das im 19. Jahrhundert reüssierte und sich bis heute als Vorstellung
vom autonomen Künstler erhalten hat. Der Begriff der Kooperation
meint eine Erweiterung des Personals, das für die Arbeit an einer
Sache zusammenkommt. Im Bereich der Kunst macht eine Kooperation erst
dann Sinn, wenn überhaupt ein konkreter Gegenstand gemeinsamer Arbeit
benannt werden kann. Unweigerlich kann dieser nicht in dem Bereich emotionaler
Subjektivität der Autoren liegen, um als Motiv gemeinsamer Anstrengungen
zu funktionieren. Es sind konkrete Orte, Situationen und erkennbare Problemfelder,
die wir den gemeinsamen Anstrengungen zugrunde gelegt haben. Maßgeblich
für unsere Arbeit ist die Ausrichtung auf öffentliche Fragestellungen,
was den Bestimmungsort wie den Adressaten der Produktion zum zentralen
Bestandteil des Diskurses werden lässt. In einem Prozess gegenseitiger
Reflektion werden Ideen und Bilder erarbeitet, die sich auf den konkreten
Arbeitsgegenstand anwenden lassen. Begleitet von einem hohen Maß
an Gesprächskultur besteht die Aufgabe darin, einzelne Meinungen
und Erfahrungen in ein Verhältnis zu bringen, das die Beteiligten
mit ihren individuellen Positionen gemeinsam vertreten können. Erreicht
wird dadurch eine inhaltliche Fokussierung, die den betrachteten Arbeitsgegenstand
schärfer zu Tage treten lässt, als es die Augen eines Einzelnen
vermögen. Fokussierung ist dabei nicht gleichzusetzen mit der einfachen
Reduktion des Problemfeldes auf Gesamtlösungen. Sowohl konvergente
Lösungen eines Problems als auch die divergente Darstellung mehrerer
Antworten auf eine Frage können in diesem Reflexionsprozess entstehen.
Die diskutierte Problemlage soll sich bei diesem Vorgang zu eindeutigen
Lösungen entwickeln, die anschließend ihrer Tauglichkeit in
realen Zusammenhängen beweisen können. Diese Konkretisierung
als Antwort auf ein Problemfeld ist unserer gesellschaftlichen Praxis
der Problemlösungen nicht verankert. Eine Vielzahl von Beispielen
aus Politik und Wirtschaft bezeugt eher eine künstliche Erhaltung
von Komplexität hinter der sich konkrete private Interessen verbergen.
Um reale Zusammenhänge tatsächlich entstehen zu lassen, ist
das Einbeziehen der teilhabenden institutionellen Partner sowie beratender
Diskussionspartner ein wichtiges Element der Erarbeitung. In unvoreingenommenen
Erörterungen von Problemen können Themenkreise erweitert werden.
Dazu muss der offene und veränderbare Charakter des Projektes in
allen Stadien der Arbeit erhalten bleiben. Die Entwicklung und Realisierung
komplexer Vorstellungen aus einer Situation heraus wird durch die Verbindung
der einzelnen Potentiale und des gemeinsamen Engagements erst ermöglicht.
Konsenslösungen sind dabei nicht zwingend anzustreben. Kooperative
Projekte können ebenso in die Sichtbarmachung eines Konfliktes einmünden.
Erfolgreich ist ein Projekt dann, wenn es ihm gelingt, mehr darzustellen,
als dies ein einzelner Autor vermag. Im Projekt "Simultane Perspektiven"
haben wir nach diesen Kriterien eine künstlerische Formulierung für
die Turmräume des Ernemannturms erarbeitet. Die von uns reflektierten
Fragestellungen sind als Statements zu einem künstlerischen Bildbegriff
für unsere Zeit zu verstehen. Wir haben den Versuch gemacht, die
Verknüpfung von Geschichte, Gegenwart und Zukunft in der Anwendung
eines historischen Formzitats darzustellen. Der Verkauf von Panoramaschildern,
die auf dem Rahmen angebracht werden, dient einerseits der Wissensvermittlung
für die Besucher des Turmes und ist zum anderen Bestandteil eines
Finanzierungsmodells, das die Erhaltung des Bausubstanz des Gebäudes
zum Ziel hat. Die ständige Vermittlung und öffentliche Darstellung
des Projektes während des Erarbeitungszeitraumes beteiligte die Öffentlichkeit
an der Formschöpfung. Dreihundert Fotografien erreichten auf unseren
Aufruf hin die Technischen Sammlungen und sind in die Gestaltung der Turmräume
integriert. Zudem konnten wir Fragen, die man uns bei diesem Vermittlungsprogramm
gestellt hat, in den Arbeitsprozess integrieren. Im weiteren Verlauf des
Projektes ist die Produktion einer Publikation geplant, die den Begriff
der "Simultanen Perspektiven" detailliert darstellen soll. Der
mit der Eröffnung initiierte Schilderverkauf führt die Doppelfunktion
des künstlerischen Objektes fort, das der Anschauung wie der funktionalen
Nutzung gleichermaßen dient. Wir sehen die kooperative Arbeitsweise
als Grundlage für innovative Erarbeitungsformen an, die in einem
gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang steht und als integrative Kunstform
in unserer Gesellschaft ihre Stelle finden kann.
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