Kunst und Gefahr

Wolfgang Bock, ein Beitrag zum Projekt "Thesen zu Kunst und Öffentlichkeit"

Die Freiheit der Kunst ist noch nicht alt. Historisch setzt die Ablösung der Kunst von der Religion mit großen Stil in der italienischen Renaissance ein. Der schöne Schein der Kunstwerke überführt einen Kultwert aus der Religion in eine neue Gesellschaft, die sich langsam mit der Unabhängigkeit des Bürgertums von den Fürsten und dem Klerus bildet und praktisch ausgerichtet ist. Im Zusammenhang des Humanismus befreien sich Religion, Philosophie, wissenschaftliche und ökonomische Entwicklung und eben auch die Ästhetik. Letztere übernimmt aus der Religion mit der Schönheit auch die Frage nach dem Sinn und nach der Wahrheit.
 
Kunst macht sichtbar. Von nun an lebt die Kunst lange Zeit davon, dass sie betrachtet wird. Zeigen und sehen bedeuten Freiheit. Zwar ist sie in Venedig, Florenz und Rom nicht für das ganze Volk zugänglich, doch gelangen immer mehr Menschen in den Genuss ihrer Rezeption. Insbesondere die neue Architektur lässt den öffentlichen Raum der Städte entstehen und prägt ihn. Ausstellung bildet offiziell das neue Herzstück von Kunstwerken. Damit verschwindet das Geheimnis, indem es in weltliche und allgemein zugängliche Formen übergeht. Autonome Kunst lebt emphatisch von dieser Transformation religiöser oder kultischer Momente in säkulare technische, ästhetische und utopische. Die Kunst wird aber auch ein strategisches Übungsfeld zur Vorwegnahme anderer Entwicklungen wie beispielsweise der Exaktheit einer Betrachtung, der Trennung von Objekt und Betrachter oder das Anlegen einer Ebene senkrecht zu der des Betrachters- Momente, die in der Wissenschaft der Neuzeit bedeutend werden.
 
Kunst entzieht sich. Doch bleibt ein Rest. Das, was man mit Georges Bataille das heterogene Wesen der Kunst nennen kann, besteht in einer Reihe von bestimmbaren, aber nicht vollständig fixierbaren Phänomenen. Es ist einerseits an die historische Epoche seiner Entstehung gebunden, geht aber andererseits darin nicht auf, sondern besitzt etwas im Zeitkern sich Durchhaltendes. Alle Bestimmungsversuche der Kunst sind von diesem Doppelcharakter durchdrungen: So enthält die Institution Kunst Momente davon im Zirkulieren der Kunstwerke als Ware zwischen Maler, Markt, Galerie, Börse, Museum und Sammler. Es wird auch auf technische Kategorien wie beispielsweise in der Malerei als Ausdruck, Pinselführung, Motivauswahl übertragen, bleibt aber, will man es allein aus solchen Elementen heraus denken, unzureichend beschrieben. Auch im Begriff der Form geht das Wesen der Kunst nicht auf, wenn es auch durch sie in ihrem Ausdruck begrenzt wird, da der Künstler immer nur aus dem Material wählen kann, das ihm seine Epoche zur Verfügung stellt; der Formbegriff schließt andererseits das Heterogene als ein Rätsel ein, so dass es im autonomen Kunstwerk wiederum in einer Schwebe gehalten wird, die es mit der kultischen Kunst zumindest vergleichbar macht(1).
 
Die Sprache der Kunst. Die Kunst soll sich zwar an der Wahrheit ausrichten, aber anders als eine Naturwissenschaft, oder eine Geisteswissenschaft, legt sie ihr Gewicht auf den Bereich der Darstellung und deren Möglichkeiten. Das Kunstwerk spricht, ebenso wie die Schuhe, der Hammer oder die Formel, aber mit einer anderen Sprache. Diese Sprache lässt sich nicht kommunizieren, sie überspringt die Kommunikation durch eine mimetische Annäherung an die Form. In diesem Sinne lässt sich der Satz von Paul Valéry: „Das Schöne erfordert vielleicht die sklavische Nachahmung dessen, was in den Dingen unbestimmbar ist“(2) verstehen.
 

Kunst und Politik. Die aufstrebenden Bürger werden früh gewahr, dass das Kunstwerk ohne den Betrachter nicht zu denken ist. Dieser lässt über eine bestimmte Nachfrage auf dem Markt den Bedarf nach Kunst erst entstehen. Es setzt ein Prozess ein, den Walter Benjamin als das Ablösen der Kunst vom Ritual zur Politik bestimmt.(3) Eine kritische ästhetische Produktion erlaubt der Kunst die Möglichkeit, in einen anderen Dienst zu treten als den, Herrschaft zu stützen oder reiner Tauschwert zu sein. Mit der Kunst greift der Bürger den Klerus und den Adel im Namen einer andere, gerechteren Welt an. Ist er aber selbst an der Macht, droht diese Waffe stumpf zu werden. In einer offenen Hinwendung zur Politik als eine bewusste und gerichtete Gestaltung der Sphäre, die alle Menschen miteinander teilen, aber liegen bis heute die Möglichkeiten der Kunst. Politisch in einem machtpolitischen Sinne war Kunst schon immer; mit den neuen Möglichkeiten erscheint auch wieder eine Verwendung möglich, die etwas anderes als eine erneute Funktionalisierung bedeutet.
 
Gefährdungen der Kunst.
Ein solcher utopischer Charakter der Kunst, der auf gerechtere Verhältnisse abzielt, aber ist zerbrechlich und bedarf einer ständigen Aktualisierung. Gefahr droht der Kunst einerseits durch erneuten Machtstabilisierung im Rahmen einer Ästhetisierung und andererseits durch eine politische Funktionalisierung in einen falschen Dienst. Als subversives Element, welches der Kunstbetrieb zu nutzen weiß, das seinem Wesen nach aber über diesen Nutzen hinausgeht, führt die ästhetische Kraft eine Existenz am Rande der Institution, die von ihr lebt. Obwohl sie den Betrieb antreibt, hat sie bis auf die wenigen Ausnahmen der großen Namen nicht viel von ihm. So zeigt das Leben der Kunst heute eine verdrehte Existenz. Mit den Möglichkeiten ausgestattet, eine radikale Kritik der bestehenden Gesellschaft zu leisten, trägt sie zugleich auch zu deren reibungslosen Fortgang bei und manövriert sich dabei selbst in eine Position, die sie zunehmend überflüssig macht.
 
Konstellationen der Kunst. Unter heutigen globalisierenden und lokalen Verhältnissen sind die Chancen der Kunst prekär. Sie liegen im Zustandekommen bestimmter gesellschaftlicher und individueller Kräftekonstellation. Massenkunst trägt die Kunst in die Welt hinaus, macht sie verkauf- und kommunizierbar; sie zersetzt mit der Verbreitung zugleich das, was sich einer Verwertung entzieht. Die neuen Medien, zu denen bereits der Film und die Photographie gerechnet werden müssen, lösen einerseits den bürgerlichen autonomen Kunstbegriff ein, sie schaffen ihn andererseits auch wieder ab. Der Kunst aber, als das Nichttauschbare im Tauschbaren, als die Kunst der Kunst, droht die Reduktion auf eine Funktion, während die Künstler tendenziell zu Kommunikatoren und Designern dieser Funktion werden. Obwohl sie als Gegeninstitution legitimiert ist, muss sie permanent um ihre Bedeutung ringen. Dennoch wird Kunst weiterhin benötigt, weil sie die bürgerliche Kultur erst ermöglicht. Sie wird auch benötigt, weil sie nach wie vor die Sinnfrage stellt, wenn sie sich auch bereits von der Schönheit verabschiedet hat.
 
Die Wirkung der Kunst. Kunst entfaltet sich in einer Konstellation von Kunstwerk, Künstler, Publikum und gesellschaftlichem Raum. Wir haben es mit der Figur eines Vierecks zu tun, in der die Grundkräfte so sich mischend umeinander fließen, wie die Säfte der Temperamente. Dieses Viereck bildet sich idealtypisch. Oft genug aber findet auch in dieser Konstellation keine Annäherung statt. Es gibt keine Garantie auf Verständigung. Aber zumindest potentiell kann sich in diesem Kraftfeld eine Erfahrung abspielen. Diese mag bewusst in Gang gesetzt werden. Sie kann aber auch unbewusst, gleichsam subkutan- unter der Haut und zerstreut ablaufen, ohne das der Kopf etwas davon mitbekommt. Man ist versucht zu sagen, dass sie sich auch dann abspielt, wenn es sich um Bruchstücke und Elementarteile von Kunst handelt, die wahrgenommen werden. Die Wahrnehmungen kümmern sich nicht so sehr darum, ob ihr Gegenstand Kunst genannt wird. Sie entwickeln sich einfach. Doch sind auch solche Entwicklungen nicht voraussetzungslos.

(1) Trotz der verschiedenen Phasen besitzt die Kunst doch auch eine Geschichte als formalen Umgang mit der Form.. Adorno sieht in der Form bekanntlich den Ausdruck einer objektiven gesellschaftlichen Entwicklung, die der Künstler überschreitend vorantreiben kann, auf die er aber auch immer wieder zurückgeworfen wird. Zugleich nimmt die Form die Sinnintention des Kunstwerks mit auf, die sich rational nicht erschließen lässt. Die Form ist die Sprache jenseits der Sprache, die außerhalb einer Kommunikation liegt und rätselhaft und nah zugleich ist. Im Rekurs auf dieses Moment impliziert Adornos Formbegriff zweierlei. Er bildet sich zum einen an der materialistischen Vorstellung von objektiv vorliegenden Produktivkräften, denen sich das Gesellschaftskollektiv in seinen Produktionsmitteln jeweils zu bemächtigen hat. Dieses gesellschaftliche Apriori enthält, wenn auch nur in Spuren, noch etwas von der Gerechtigkeit und dem Fortschritt des Geschichtsprozesses, die Marx konstruiert hat, von denen wir aber nicht mehr ausgehen können. Zugleich konstatiert Adorno daher ein Nebeneinander von subjektiven Vermögen und objektiven Mitteln, das sich in Form von Korrespondenzen zwischen beiden Ebenen beschreiben lässt. Für diese Verbindung ist charakteristisch, dass sich die Seite der Phänomene nicht aus der ökonomischen Basis allein ableiten lässt, sondern diese sich, wenn sie sich einstellen, zufällig ergeben. Dass sie sich überhaupt ergeben, ist aber nur höchst selten der Fall. Sie liegen vielmehr im Rätselcharakter der Kunst gebunden vor. Anders gesagt, Subjektivität und Objektivität, Detail und Ganzes sind zwar negativ als Zwangszusammenhang bestimmt, sie sind aber positiv nicht hinreichend vermittelt.
(2) Paul Valéry, Windstriche, Frankfurt/M. 1995, S. 67.
(3) Vgl. Benjamin GS 1,2, 482.