Aktualisieren

Jens Herrmann, Andreas Paeslack, Wolfram Höhne
 

Erinnerung ist eine wichtige Ressource des Bewusstseins, aus der wir unser aktives Handeln in der Gegenwart entwickeln. Unsere Rückschau in die Vergangenheit ist dabei getrübt durch den Verlust der unmittelbaren Erfahrung. Uns verbleibt allein die Möglichkeit der Rekonstruktion, um zumindest ein Abbild der Vergangenheit in unserer Gegenwart zu erzeugen.
In den Monumenten manifestiert sich der kollektive Versuch, eine für unsere Gegenwart relevante Vergangenheit zu verbildlichen. Fragmentarisch versuchen diese, historische Ideen und Ereignisse in aufwendigen Formen zu materialisieren. Die Resultate sind in der Regel Erinnerungsamputate einer vergangenen Unmittelbarkeit, die allenfalls den Formen eines ritualisierten Gedenkens genügen. Monumente vermitteln die Vergangenheit. Sie erweitern unser Wissen, schaffen jedoch kein Bewusstsein für die Brauchbarkeit historischer Ideen.
Wir verinnerlichen Geschichte erst, sobald wir historische Ideen in unserer Gegenwart wieder erkennen. Damit ist nicht die Kenntnisnahme vermittelter Vergangenheit gemeint, sondern ein Vergleich zwischen dem ideellen Erbe der Vergangenheit und der aktuellen Situation. Sobald eine zeitüberschreitende Parallelität des Geschehens erkannt wird, besitzt die Vergangenheit Aktualität. Wenn wir nach dieser Erkenntnis in unserer Gegenwart handeln, aktualisieren wir die Vergangenheit. Aktualisierungen sind tatsächliche Denkmäler.
Im Sommer 2000 erarbeiteten wir mit der Gemeinde Moritzburg das Kunstprojekt “Barockhaus". Erklärtes Ziel war es, die Öffentlichkeit in die Produktion öffentlicher Kunst einzubinden. Unsere Produktion sollte einen Adressaten haben und Berührungspunkte schaffen, anstatt nur abstrakte Widmung zu sein. Die Beteiligung der Moritzburger an Entscheidungsvorgängen sowie an der praktischen Ausführung unserer Arbeiten erschien allen Beteiligten ungewöhnlich und war das gewünschte Produktionsexperiment. In der Praxis zeigte sich, dass es möglich ist, die Moritzburger Bevölkerung für unser Vorhaben zu engagieren. Widerstände gegen unsere Arbeitsform wurden uns jedoch seitens des künstlerisch vorgebildeten Fachpersonals der beteiligten Institutionen entgegengebracht. Ihr Kunstbegriff, der ein Garant für ihre Qualitätsvorstellungen ist, und die von uns gewünschte Praxis standen sich gegenüber. Kompromisse waren theoretisch denkbar, aber praktisch hoch problematisch. Heftiger Kritik ausgesetzt waren politisch motivierte Arbeiten und solche, in denen die Autorenschaft der beteiligten Bevölkerung in hohem Maße sichtbar wurde. Es kam zu Reglementierungen und zu Verboten im Namen der Kunst. Wir empfanden dies als eine Form der Versteinerung von Humanität.
Im Laufe des Projektes erhielten wir von der Käthe-Kollwitz-Gedenkstätte den Auftrag, eine Arbeit zu formulieren, die das Leben und Werk der Kollwitz reflektiert.
Die Biografie der Kollwitz berichtet von vergleichbaren Widerständen bei ihrer Suche nach einer humanen Kunst. Das vernachlässigte Kollwitzdenkmal in der Ortsmitte zeigte, wie die Künstlichkeit und Totenstarre institutionalisierter Gedenkformen das Erbe der Kollwitz verkümmern ließen. Da war auf der einen Seite das bis heute aktuelle Werk von Käthe Kollwitz und auf der anderen ein Monument, dessen Sprache nicht mehr spricht. Dieses Monument wollten wir aktualisieren, ihm eine diskutable Form geben. Das jüdische Brauchtum, den Gedanken an Verstorbene durch das Auflegen eines Steines zu symbolisieren, empfanden wir im Falle des Denkmals als eine geeignete Form, unser Anliegen zu formulieren. Die Kollwitz-Gedenkstätte und die Gemeinde beauftragten uns mit der Realisierung des Vorhabens. Wir fanden einen geeigneten Stein in der Müglitz, einem Fluss des nahe liegenden Erzgebirges. Der Steinmetz des Ortes schlug den Schriftzug “Versteinerte Humanität - dem institutionellen Kunst- und Kulturbegriff gewidmet" in den Findling ein und brachte diesen auf dem Denkmal an. Außerdem gelang es uns, die Gemeinde für eine Neugestaltung der Denkmalanlage zu gewinnen, die arbeitslose Moritzburger nach einem Architekturentwurf ausführten. Im September konnten wir das aktualisierte Denkmal der Öffentlichkeit vorstellen.
Bereits kurze Zeit später forderte eine Gruppe Moritzburger Einwohner unter der Führung eines ortsansässigen Künstlers die Abnahme des Steines. Das wichtigste Argument der Gegner war, dass Kunstwerke nicht von anderen Autoren weiterformuliert werden dürften. Ferner zweifelte man an der Form des Findlings und daran, ob wir als Künstler jüdische Bräuche in Moritzburg ausüben dürften. Daraufhin luden wir diese Gruppe zu einer gemeinsamen Diskussionsrunde ein, an der lediglich eine Vertreterin der Gegenpartei teilnahm. Im Sommer 2002 erhielten wir eine Mitteilung des Gemeinderates, dass man die Abnahme des Steines beschlossen habe. Wir begrüßten den Entschluss, unsere “Aktualisierung" zu aktualisieren. Unserer Bitte, die Abnahme als feierliche Veranstaltung durchführen zu dürfen und den Stein im Zuge dieses Ereignisses in die Müglitz zurückzuwerfen, entsprach man nicht. So holten wir den abgesägten Stein in einem Flur des Bürgermeisteramtes ab. Danach lag das Monument bis zu seiner Versendung nach Tel Aviv vor einem mit Aktenordnern gefüllten Regal in der Wohnung von Andreas Paeslack.
Der Stein richtet sich gegen einen kategorisierenden Umgang mit Kunst und Kultur in unserer Zeit. Er fordert eine lebendige Auseinandersetzung und keinen Verwaltungsakt. Wir haben den Stein am Moritzburger Kollwitzdenkmal angebracht, weil dieses an die humanen Intentionen von Käthe Kollwitz erinnern sollte, damals aber als vergessenes Monument ein isoliertes Dasein führte. Ebenso gut kann der Findling jetzt überall dort platziert werden, wo Vorgefasste Meinungen und verkrustete Strukturen das Handeln mit innovativen und kritischen Ansätzen verhindern.