Christoph Böhme, Jens Herrmann, Wolfram Höhne,
Ines Knackstedt, Christiane Oertel, Andreas Paeslack, Manuela Mangold,
Katja Weber; Klappentext des Buchobjekts "Philosophischer Arbeitsblock"
Wer bei Null anfängt, der beginnt mit einer
Lüge.
Jeden Tag begegnen wir einer wogenden Fülle
des Lebens. Unserem Erfassungsvermögen bleibt davon nur ein winziger
Anteil zugänglich. Um so paradoxer ist es, dass der Ort, an dem die
Beschreibung und Gestaltung unserer Umwelt ihren Anfang nimmt, seit beinahe
2000 Jahren der gleiche geblieben ist. Das weiße Blatt, selbst Ausdruck
der Leere an sich, halten wir uns vor Augen und erhoffen, die Welt darin
wieder zu erblicken.
Jedes weiße Blatt fordert dazu auf, sich als Weltschöpfer an
den Anfang unserer Entwicklungsgeschichte zurück zu versetzen. Dieser
überzogene Anspruch lähmt die Entwicklung unserer Kultur. Die
Vernünftigen spüren die Angst vor dem weißen Blatt und
verspielen durch ihr Zögern ihren hoffnungsvollen Anteil an der Gestaltung
unserer Welt. Die Anmaßenden bringen mit großen Gesten ihre
verlegenen Konstruktionen zu Papier, die von da aus einen verhängnisvollen
Weg in die Wirklichkeit nehmen.
In der Kunst ist der Problemfall des weißen Blattes am deutlichsten,
weil ein Großteil der Künstlerschaft ein seltsames Arbeitsmotiv
prahlerisch propagiert. Den inneren Welten Ausdruck zu geben, heißt
das oft erklärte Ziel, und dazu ist natürlich nichts besser
geeignet, als das weiße Blatt, dem jede Außenwelt fern ist.
Anstatt der viel komplexeren Aufgabe nachzugehen, unsere Realität
aktiv mit zu gestalten, ziehen Künstler es vor, die Welt als ein
Planspiel zwischen vier Ecken aufzufassen. Die Kunst als angesehener Raum
der Kreativität bleibt in sich selbst versunken und wäscht ihre
Hände in Unschuld. Die Auswirkungen für die Kunst können
wir leicht verschmerzen, denn sie bestehen lediglich darin, dass das Kunstpublikum
die Langeweile befallen hat.
Anders sieht es in Bereichen wie den Wissenschaften oder der Architektur
aus. In unserer inneren Welt sind wir selbst die angesehenste Person.
Dies veranlasst uns vorschnell zu Strichen, die in der Realität Schneisen
der Monotonie in eine vormalige Lebendigkeit schlagen. Frei nach dem Motto:
Der Starke zweifelt hinterher. In den Betonwüsten unserer Städte
kann jeder anschaulich nachsehen, wie man ein Blatt karieren muss, um
es den Gesetzmäßigkeiten der weißen Fläche entsprechend
zu füllen. In abgeschotteten Büros und Limousinen beugen sich
unsere Entscheidungsträger über hübsch dekorierte Papierchen,
um diese vor Feierabend in der Ablage verschwinden zu lassen. Wir aber
müssen fortan mit dem leben, was dort zwischen Ordnerrücken
klemmt.
Als bürokratischer Verwaltungsakt hält uns das weiße Blatt
von einer gemeinsamen Betrachtung der Welt ab. Dagegen ist es als Wissensspeicher
und Ort der Fantasie ein wichtiger Begleiter unserer Kulturgeschichte.
Es wäre also falsch, ein Bilderverbot a priori auszusprechen. Oft
bleibt nur ein Pappschild in unserer Macht, um unserem Willen öffentlich
Ausdruck zu geben. Wie aber kann verhindert werden, das der Stoff mit
dessen Hilfe man Ideengebäude beschreiben kann, diese in verhängnisvollem
Maße prägt?
Wir glauben, dass nur die direkte Anschauung und Auseinandersetzung mit
unser Umwelt eine plausible Antwort geben kann. Dafür ist es hilfreich,
sich die Welt als eine Kulturbaustelle vorzustellen, auf der wir alle
tätig sind. So sichern wir die Gemeinsamkeit der Betrachtung, die
durch das weiße Blatt zuvor isoliert geblieben ist. Das Ideengebäude,
an dem wir tätig sind, ist unsere Kulturgeschichte. Obwohl wir es
jeden Tag erweitern, bleibt es dennoch auf alle Zeit ein unfertiges Gebäude,
das unseren Ansprüchen niemals vollständig gerecht wird. Mit
unseren unterschiedlichen Fähigkeiten suchen wir nach geeigneten
Plätzen, um anzubauen. Es entstehen prachtvolle Flügel und Etagen,
aber auch verkümmerte Bauten von mangelnder Statik. Entgegen unserer
Neigung, Konflikte zu meiden, dürfen diese unfertigen Bauten nicht
als Kunstruinen erhalten bleiben, denn sonst wird der Raum für unsere
eigenen Planungen auf eine Restfläche zwischen den Gebäuden
der Vergangenheit schrumpfen. Noch viel zu oft, werden durch ein falsches
Verständnis von Tradition ruinöse Ideen aus der Vergangenheit
an der Gegenwart vorbei manövriert. Dort, wo Ideengebäude bewohnbar
sind und ihre Fundamente für die Errichtung eines Gebäudes taugen,
ist Vergangenheit für unsere Gegenwart von Bedeutung. Die falsch
verstandene Tradition aber bringt Regelwerke hervor, die uns den Umgang
mit unserer Geschichte verwehren. Was wir brauchen, sind Pläne für
den Umbau. Wer glaubt, immer wieder neu bauen zu müssen, der wird
die Welt nicht tiefer verstehen, als es die Papierstärke zulässt.
Er wird in seiner kolonialen Mentalität neue Grenzen ziehen. Betrachtet
man eine Karte des afrikanischen, amerikanischen oder australischen Kontinents,
so kann man die Ecken der Notizblöcke im Grenzverlauf der Staaten
wieder finden. Unvermindert sind die Zettelschlepper heute unterwegs.
Diese traurige Praxis setzt jedes neue Blatt fort, das der alleinige Ort
unserer Erwägungen bleibt.
Sollte es uns jemals gelingen, den Kontakt zu Außerirdischen herzustellen,
so würden sie Zweifels ohne das weiße Blatt als merkwürdigste
Leistung unserer Kultur benennen. „Sie verehren das Nichts und die
darauf konstruierten Utopien mehr als das suchende Gespräch.“
stünde dann im Bericht des extraterrestrischen Botschafters. |