Thomas Freytag
Kunst - Raum - Stadt
 

Für Andre Wogenscky, dem am 5. August verstorbenen, ehemaligen Partner Le Corbusiers, war Architektur nicht einfach nur ein Anordnen von Steinen und Beton, sondern die Organisation räumlicher Formen, die Suche nach adäquaten Raum für einen menschlichen Zweck.
„In der Diskussion über das (Berliner) Kulturforum,“ schreibt die Süddeutsche Zeitung der Wochenendausgabe vom 21. August, „herrscht immer noch der alte Irrglaube vom Architekten als Erzieher, begleitet vom gleichmacherischen Wunsch, ganz Berlin in einen dichten Stadtraum zu verwandeln, als dürfe es nichts als Hackesche Märkte geben. Wer aber nicht erzogen werden will, der sieht unverzüglich, dass die tatsächlich bedrückende Atmosphäre am Kulturforum wenig mit Fassaden und Baukörpern, aber viel mit Verkehr und Parkraumbewirtschaftung zu tun hat, hier herrscht das Auto, der mächtigste Städtezerstörer der Neuzeit.“ Und weiter unten heißt es: „Eine Stadt ist mehr, als Architekten entwerfen können, und Berlin musste oft gegen sie errungen werden.“
Das sind nur zwei Auffassungen, wahrscheinlich ist die Anzahl der Definitionen von Architektur genau so groß wie die Anzahl von Architekten.
Was Architektur ist, sein kann und leisten soll, ist also, siehe oben, (erwartungsgemäß) umstritten - nicht anders verhält es sich bei der Kunst und dem Rollenverständnis der Künstler!
Zur Kunst, öffentlichen Kunst oder, wie es in manchen Ländern auch etwas abwertend heißt, öffentlichen „Dekoration gesellen sich im Stadtraum weiterhin Disziplinen wie Stadtplanung, Landschaftsarchitektur, Design miteinander und leider oft auch gegeneinander. Das macht das Problem nicht einfacher.
Architekten, Stadtplaner, Künstler, Landschaftsarchitekten, Designer, Verkehrsplaner - alle sind irgendwie und irgendwo zuständig, verantwortlich, kompetent. Zur Kompetenzproblematik und der eingangs angedeuteten inhaltlichen Konfusion gesellen sich noch, das soll der Vollständigkeit halber nicht unerwähnt bleiben, Kontroversen um Berufsbilder und Entwicklungsszenarien, Verteilungskämpfe, Rivalitäten, engagierte Bürger, Medien, mehr oder weniger aufgebrachte Öffentlichkeiten sowie eine große, nicht zu unterschätzende Zahl wirklich Inkompetenter.
Das ist weiß Gott mehr als man in einem kleinen Aufsatz unterbringen, einschätzen, bewerten und verarbeiten kann! Wir werden uns deshalb in der Folge auf öffentliche Kunst und Architektur beschränken, wohl wissend, dass sie keine isolierte Stellung einnehmen, sondern Bestandteil der „Soziokultur“, oder wenn man so will, des allgemein beklagten Kultur- und Werteverfalls sind, der inzwischen offensichtlich auch den Hochleistungssport erreicht hat.
Was bleibt? Die (moderne) Stadt mit ihren Problemen, die moderne, d. h. unverstandene, ungeliebte, manchmal auch durchaus gehasste Gegenwartsarchitektur (sofern sie nicht hundertwassergemäß oder sonst wie bunt schillernd daherkommt), die unfreiwillig entstandene Freiheit von Arbeit, sprich Arbeitslosigkeit, die nicht unbedingt zur Rückgewinnung öffentlichen Raums führte, die umstrittenen Funktionen von Kunst und Künstler (sofern er nicht Spitzwegs armen Poeten oder anderen gängigen Klischees entspricht). Alles in allem: immer noch ein beträchtliches Durcheinander in der „citta diffusa“, der telematischen „never ending city“! „Wenn 'Leben' grenzenlos vielfältig räumebildend wirkt,“ schreibt Peter Slotterdijk (Sphären III) „so nicht nur, weil jede Monade ihre eigene Umwelt hat, sondern mehr noch, weil alle mit anderen Leben verschränkt aus zahllosen Einheiten zusammen gesetzt sind.“
Also noch einmal zurück: Wie war das früher?
Der antike oder der Renaissancemensch konnte das gesamte Wissen der jeweiligen Zeit als Einzelner gut überschauen manche, wie Leonardo, sagt man, wussten sogar Alles. Aber sie mussten ja auch kein Fax oder Handy bedienen oder Videorecorder programmieren! Der moderne Mensch hingegen, der Mensch der Medien- und Informationsgesellschaft, der über mehr Gerätschaften verfügt als ein mittelalterlicher Potentat, weiß zwar über Diätkuren und Fältchencremes bescheid, nicht aber, warum es beispielsweise Ebbe und Flut oder Jahreszeiten gibt! (In einigen Bundesstaaten der USA soll die Evolutionsbiologie immer noch verboten sein.)
Der Mensch der Vergangenheit konnte in früheren Epochen deutlich unterscheiden, was Kunst ist und was nicht. Architektur unterlag strengsten Regeln, aber die Übergänge zwischen Dekor und „Bau gebundener“ Kunst waren fließend. Der moderne Mensch kann, betritt er ein Kunstmuseum oder eine Galerie, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen, 98 Prozent aller Objekte sind Kunstwerke - im öffentlichen Raum - dagegen wird es schwierig; er ist nicht mehr Herr der Dinge und verwechselt schon einmal Kunst mit Sperrmüll.
Sicher ist das ein Bildungsdefizit: Kunstrezeption ist, wie Brecht schon vergeblich aufzuklären versuchte, auch anstrengend, mit Arbeit verbunden, also durchaus nicht nur „Genuss“, sondern Ergebnis eines Konditionierungsprozesses. Das ist in einer Zeit schwer zu vermitteln, in der man z. B. das Erlernen von Fremdsprachen oder eines Musikinstruments „ohne Mühe“, gewissermaßen im Eilverfahren anbietet! Diese Konditionierung, und hier liegt die Verantwortung aller Erzieher, ist auch deshalb erforderlich, weil - dank Foto, Film, Video & Co.- die Kunst ihre Abbildungsfunktion teilweise verloren hat und sich damit erfreulicherweise stärker um ihre kognitiven Komponenten kümmern kann.
Die Wahrnehmung und Beurteilung öffentlicher Kunst wird durch zwei weitere Zeitgeist Phänomene behindert: Die Medien, zu denen Architektur mit allen dazugehörigen Begleiterscheinungen wie Promotion, Corporate - Identity usw. inzwischen gehört, konkurrieren im öffentlichen Raum auf das heftigste um die „Gunst“ des Betrachters, besser: des Konsumenten.
Zum Anderen verlieren sich die „Messages“ im Informationsdickicht. Im Gegensatz zum - sagen wir mittelalterlichen Menschen, der Bauer, Leibeigener, Handwerker, Adliger, Geistlicher usw. war - hat der moderne Mensch, der Steuerzahler, Wähler, Verbraucher, Arbeitnehmer und -geber ist, Probleme, die Dinge zu ordnen.
Viel von der visuellen und akustischen Umweltverschmutzung wird folglich nicht mehr registriert. Die Aufnahmekapazitäten sind begrenzt und erschöpft. Das erklärt einerseits Erscheinungen wie die Konjunktur von Landschafts-, Meditations- und Rückzugsräumen aller Art, aber auch des Internets, in dem die Sensationen nicht mehr gleichzeitig, sondern sequenziell und damit leichter verdaulich stattfinden.
(Das würde allerdings auch den totalen Misserfolg des Cyberspace antizipieren, der ja eine Steigerung, Übertreibung des Realen im Virtuellen bedeutet.)
Ansatzweise existieren auch Gegenströmungen und -bewegungen, was die Sache wieder spannend macht: Global agierende, mehr oder weniger freche, mehr oder weniger politische Gruppierungen, deren Tätigkeitsspektrum recht „unscharf“ ist und demzufolge in der Schublade „Kunst“ abgelegt wird. Was sich davon durchsetzen wird im 21. Jahrhundert, das heißt auch: Was der Mainstream von übermorgen wird, lässt sich momentan noch schwer prognostizieren.
Was sich hingegen relativ gut einschätzen lässt, ist die internationale Architekturszene: Architektur, die sich aus der ästhetischen Umklammerung befreit, struktureller wird (in dieser Hinsicht ist die Kunst - wie oft in der Geschichte - der Architektur voraus).
Wir wissen ebenfalls, dass die moderne Stadt mit all ihren gestalterischen Höhepunkten und Abscheulichkeiten, mit ihren Widersprüchen und Brüchen ein optimales Abbild und Ergebnis der mulikulturellen, funktionalen, pluralistischen, demokratischen Gesellschaft ist. Die Gegensätze lassen sich nicht mehr retuschieren, wozu auch?
Um so ärgerlicher und peinlicher sind alle nostalgischen, ästhetischen, konjunkturellen, modischen Anbiederungen sowohl der öffentlichen Kunst als auch der Architektur in der Stadt - dazu gehört die kontextlose „Abwurfkunst“ ebenso wie die niedlichen, neckischen Anspielungen, die so gar nicht zu den fatti urbani passen.
(Leider konnten nicht alle Themen in diesem eher feuilletonistischen Kontext angesprochen werden - wichtig wäre auf jeden Fall auch die Diskussion des Verhältnisses Stadt - Land, Land - and Environmental und Public Art.
Der Autor hofft einige Thesen, im Rahmen einer Arbeit über zukünftige Stadtentwicklungen, zu gegebener Zeit zur Diskussion zu stellen.)