Wolfram Höhne
Jost Hermand „Nach der Postmoderne“
Rezension
Jens Herrmann: "Menschenhandel"
Schloss Moritzburg: Dieses Ausstellungsobjekt tauschte der sächsische Kurfürst August der Starke zusammen mit einigen Hirschtrophäen gegen sächsische Rekruten ein, die als Leibeigene im preußischen Heer fortan dienen mussten.
Wladimir Brintzalow besitzt 2,5 Milliarden Dollar. Er ließ sich als Präsidentschaftskandidat aufstellen. „Ich will Zar sein.“

Aus: Jens Herrmann „Menschenhandel“, Schaukasten über die Dragonervasen, Barockhaus--Projekt, Moritzburg 2000
Wer nach den kulturellen Ursachen der derzeitigen gesellschaftlichen Katerstimmung Ausschau halten möchte, dem sei ein Blick in das soeben erschienene Buch „Nach der Postmoderne“ des in Wisconsin lebenden Germanistikprofessors Jost Hermand empfohlen. Hermand beschreibt, wie dem Kunstschaffen im Spätkapitalismus das Motiv einer besseren Gesellschaft immer mehr abhanden kommt. Nach ihm befinden wir uns heute in einer Zeit, die zwar ständig neue ästhetische Hüllen hervorbringt, jedoch keine Auseinandersetzung mehr über das gemeinsame Dasein der Menschen in einer Welt voller Ungerechtigkeit führt. Damit das Unrecht unentdeckt oder zumindest erträglich bleibt, wird heute gern auf pluralistische Entscheidungsinstrumente, wie die Pressefreiheit oder den liberalistischen Charakter unserer Gesellschaft der unbegrenzten Möglichkeiten verwiesen. Aber auch diese einstigen Errungenschaften sind längst nur noch die Hüllen ihrer selbst. Der Ruf nach Freiheit scheint sich darin erfüllt zu haben, zwischen zwanzig Waschmittelsorten wählen zu dürfen. Von der kaschierten Ungerechtigkeit des Systems bleibt nur das Ohnmachtsgefühl zurück, sowieso nichts ändern zu können. Hermand nennt das den gesellschaftlichen Status quo- eine Erstarrung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Gesellschaftliche Krisen jedoch bieten die Möglichkeit zur Veränderung- dann nämlich wenn die Freiheit des Konsums und der Scheinpluralismus der Medien nicht mehr ausreichen, unsere Sensibilität für gesellschaftliches Unrecht zu betäuben.
Jost Hermand ist eine Ausnahmeerscheinung in der Kunstwissenschaft. Er beschreibt und bewertet Kunstwerke vor dem Hintergrund der Geschichte, ihren sozialen Bedingungen und Machtgefügen. Seine Perspektive beschreibt die Kulturgeschichte als einen Prozess der Humanisierung menschlichen Zusammenlebens. Damit unterscheidet er sich von anderen Theoretikern, die ein weniger zeitgebundenes Denken verfolgen und nach überzeitlichen Kriterien suchen, mit denen sich der Ewigkeitsanspruch von Kunstwerken aber auch der lethargische Status quo der Gesellschaft, begründen lässt.
Bevor Hermand den Zustand der Gegenwartskultur beschreibt, widmet er sich der Frage nach der Relevanz der historischen Kunst für den heutigen Betrachter. Wie wird die Kunst vergangener Unrechtsstaaten, wie etwa der antiken Sklavenhaltereien oder mittelalterlicher Notgesellschaften heute angesehen? Hermand findet einen naiven Blick auf das altehrwürdige Milieu, der in jenen Schloss- und Burgtouristen gipfelt, die sich noch den Richtblock des Fürsten unter handwerklichen Gesichtspunkten ansehen können. Das Unrecht vergangener Zeiten verschwindet im Blendwerk der Kunst. Wer genauer hinsieht, wird vieles an Machogehabe, Kriegsverherrlichung und rücksichtsloser Triebhaftigkeit finden und nur selten jemanden, der darauf hinweist.
Das wir mit diesem historischen Ballast einen derartig leichten Umgang finden, haben wir den Deutungswissenschaften zu verdanken, genauer gesagt jenen Wissenschaftlern, die das Zeitlose anstatt der historischen Umstände suchen, um Kunst zu bewerten. Zeitlos ist nach Hermand vor allem der Verweis auf Kriterien, die aus unserer psychologischen Grundausstattung stammen. Dort, wo die Schönheit, Melancholie oder der Grusel zeitreisender Kunstwerke auch den heutigen Betrachter erschauern lässt, verschwindet die Frage nach der gesellschaftskritischen Haltung des Künstlers. Besonders die bildende Kunst ist anfällig für eine Kunstauffassung, die Hermand mit dem „Eintauchen in eine warme Badewanne“ vergleicht. Ihre visuelle Erscheinungsform kommt der oberflächlichen Lesart unserer Zeit entgegen, die meist nicht über die ästhetische Hülle hinausgeht. Wenn Kunstkritiker sich von Restaurantkritikern unterscheiden sollen, müssen also andere Qualitäten als das zeitüberspannende Auslösen von Gefühlen in die Betrachtung einbezogen werden.
Hermands Kritik an der Rezeption des historischen Kunstbestandes schließt eine Schilderung des Zustands der Gegenwartskultur an, die vor allem die Entwicklung der Künste in Deutschland nach 1945 im Blick hat. Künstlerische Reformbewegungen, die nach einer besseren Gesellschaft suchten, trafen auf beiden Seiten der politischen Blöcke auf Widerstand. Sie verschwanden in den doktrinären Apparaten der Ostblockstaaten, die an Instrumentalisierung mehr als an Auseinandersetzung interessiert waren. Im Westen behinderte der Totalitarismus-Verdacht, der jeden Realismus sofort der braunen oder roten Diktatur zuordnete, eine realistische Weltsicht in der Kunst. Die ungegenständliche Form erlebte ihre eigentliche Karriere und dient bis heute als ein fragwürdiger Freiheitsbeweis der kapitalistischen Gesellschaft. Verloren ging dabei das Bewusstsein um das Gegenüber einer Gesellschaft, die es zu verbessern gilt. Es wich einem Verständnis des „Postismus“, welcher besagt, dass wir uns heute in einer Nach-Zeit befinden, in der alles Ringen um die Geschichte ein Ende gefunden hat. Auch die 68er Bewegung beendete ihren Marsch durch die Institutionen kurz nachdem sie dort angekommen war. Das Wort „ideologisch“ wurde zu der Negativvokabel, in der es heute bedenkenlos verwendet wird.
Um nicht als ideologisch gelesen zu werden, verzog sich die Künstlerschaft auf den Olymp der autonomen Kunst und geht dort seither einer Praxis der eitlen Selbstbespiegelung nach. Jeder Künstler will Star oder Diva sein. Die Inhalte verschwinden hinter den ästhetischen Modehüllen des Zeitgeists, die laufend erneuert werden müssen, um die gesellschaftliche Stagnation nicht durchdringen zu lassen. Auch die Wissenschaften ziehen mit. Jede neue Hülle erhält ihren „differenzierten Wissenschaftsjargon“. Die hohe Kunst bewegte sich in jenen randständigen Bereich, in dem sie sich heute befindet. „Theoretiker sprechen zu Theoretikern in dem vollen Bewusstsein, dass ihnen niemand zuhört.“ Um gesamtgesellschaftliche Fragestellungen geht es kaum noch, sondern vielmehr um philosophisch abgehobene Spitzfindigkeiten, mit denen „akademische Lorbeerkränze und Stipendien“ anvisiert werden. Künstler wie Akademiker verstehen sich nicht mehr als Anwälte einer gerechten Welt, sondern als „Vertreter einer kulturellen Elite“, der „von Staats wegen noch mehr Freizeit eingeräumt werden soll, um in Ruhe über ihre eigenen Kultur- und Theoriebedürfnisse nachzudenken“.
Was die Kunst seither vernachlässigt, ist die Ansprache an die breite Bevölkerung. Diese bleibt den Massenmedien überlassen, deren ständig strömende mediale Flut den Kulturkonsumenten kaum noch über den Augenblick hinaus denken lässt. „Social engineering“ nennt man die Erziehung des Fernsehzuschauers zu konsumorientierten Lebensmodellen. Der tägliche Presserummel wird als demokratische „Pluralität“ ausgegeben, ist aber nichts anderes, als die Gleichschaltung zu einem eindimensionalen Denken.
Hermand beschreibt die Ökonomisierung des Kulturlebens an zahlreichen Beispielen und zeigt, wie sich unter der zersetzenden Wirkung des Geldes kulturelle Werte in die Effizienzfaktoren der Warenproduktion verdinglichen. Kunst und Wissenschaft hat der Trend zur Ökonomisierung wie alle anderen Bereiche des Lebens erfasst.
Soll die Kunst überhaupt noch eine Chance haben, so muss diese sich einer gesamtgesellschaftlichen Kritik verschreiben und der Vereinnahmung durch den Markt widersetzen. Nur wer eine utopisch hoffnungsvolle Perspektive im gesellschaftlichen Sinne hat und seine Arbeit als eine Didaktische versteht, der kann laut Hermand auch heute noch bedeutende Kunst hervorbringen. Die Kunst der Zukunft soll dem ästhetisch wie historisch denkenden Menschen „sinnliche Gratifikation und ideologische Schubkraft“ geben. Alle andere Kunst aber darf immer noch darauf hoffen in aller Zukunft aufbewahrt zu werden: als schlechtes Beispiel für eine degenerierte Gesellschaft der Vergangenheit.
 

Jost Hermand „Nach der Postmoderne“, Böhlau-Verlag, 2004, ISBN 3412128031
Jens Herrmann "Scheibenglobus"
Jens Herrmann „Scheibenglobus“, Mixed Media, 30 cm, 2001