Wer nach den kulturellen Ursachen der derzeitigen
gesellschaftlichen Katerstimmung Ausschau halten möchte, dem sei ein
Blick in das soeben erschienene Buch „Nach der Postmoderne“
des in Wisconsin lebenden Germanistikprofessors Jost Hermand empfohlen.
Hermand beschreibt, wie dem Kunstschaffen im Spätkapitalismus das Motiv
einer besseren Gesellschaft immer mehr abhanden kommt. Nach ihm befinden
wir uns heute in einer Zeit, die zwar ständig neue ästhetische
Hüllen hervorbringt, jedoch keine Auseinandersetzung mehr über
das gemeinsame Dasein der Menschen in einer Welt voller Ungerechtigkeit
führt. Damit das Unrecht unentdeckt oder zumindest erträglich
bleibt, wird heute gern auf pluralistische Entscheidungsinstrumente, wie
die Pressefreiheit oder den liberalistischen Charakter unserer Gesellschaft
der unbegrenzten Möglichkeiten verwiesen. Aber auch diese einstigen
Errungenschaften sind längst nur noch die Hüllen ihrer selbst.
Der Ruf nach Freiheit scheint sich darin erfüllt zu haben, zwischen
zwanzig Waschmittelsorten wählen zu dürfen. Von der kaschierten
Ungerechtigkeit des Systems bleibt nur das Ohnmachtsgefühl zurück,
sowieso nichts ändern zu können. Hermand nennt das den gesellschaftlichen
Status quo- eine Erstarrung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Gesellschaftliche
Krisen jedoch bieten die Möglichkeit zur Veränderung- dann nämlich
wenn die Freiheit des Konsums und der Scheinpluralismus der Medien nicht
mehr ausreichen, unsere Sensibilität für gesellschaftliches Unrecht
zu betäuben.
Jost Hermand ist eine Ausnahmeerscheinung in der Kunstwissenschaft. Er beschreibt
und bewertet Kunstwerke vor dem Hintergrund der Geschichte, ihren sozialen
Bedingungen und Machtgefügen. Seine Perspektive beschreibt die Kulturgeschichte
als einen Prozess der Humanisierung menschlichen Zusammenlebens. Damit unterscheidet
er sich von anderen Theoretikern, die ein weniger zeitgebundenes Denken
verfolgen und nach überzeitlichen Kriterien suchen, mit denen sich
der Ewigkeitsanspruch von Kunstwerken aber auch der lethargische Status
quo der Gesellschaft, begründen lässt.
Bevor Hermand den Zustand der Gegenwartskultur beschreibt, widmet er sich
der Frage nach der Relevanz der historischen Kunst für den heutigen
Betrachter. Wie wird die Kunst vergangener Unrechtsstaaten, wie etwa der
antiken Sklavenhaltereien oder mittelalterlicher Notgesellschaften heute
angesehen? Hermand findet einen naiven Blick auf das altehrwürdige
Milieu, der in jenen Schloss- und Burgtouristen gipfelt, die sich noch den
Richtblock des Fürsten unter handwerklichen Gesichtspunkten ansehen
können. Das Unrecht vergangener Zeiten verschwindet im Blendwerk der
Kunst. Wer genauer hinsieht, wird vieles an Machogehabe, Kriegsverherrlichung
und rücksichtsloser Triebhaftigkeit finden und nur selten jemanden,
der darauf hinweist.
Das wir mit diesem historischen Ballast einen derartig leichten Umgang finden,
haben wir den Deutungswissenschaften zu verdanken, genauer gesagt jenen
Wissenschaftlern, die das Zeitlose anstatt der historischen Umstände
suchen, um Kunst zu bewerten. Zeitlos ist nach Hermand vor allem der Verweis
auf Kriterien, die aus unserer psychologischen Grundausstattung stammen.
Dort, wo die Schönheit, Melancholie oder der Grusel zeitreisender Kunstwerke
auch den heutigen Betrachter erschauern lässt, verschwindet die Frage
nach der gesellschaftskritischen Haltung des Künstlers. Besonders die
bildende Kunst ist anfällig für eine Kunstauffassung, die Hermand
mit dem „Eintauchen in eine warme Badewanne“ vergleicht. Ihre
visuelle Erscheinungsform kommt der oberflächlichen Lesart unserer
Zeit entgegen, die meist nicht über die ästhetische Hülle
hinausgeht. Wenn Kunstkritiker sich von Restaurantkritikern unterscheiden
sollen, müssen also andere Qualitäten als das zeitüberspannende
Auslösen von Gefühlen in die Betrachtung einbezogen werden.
Hermands Kritik an der Rezeption des historischen Kunstbestandes schließt
eine Schilderung des Zustands der Gegenwartskultur an, die vor allem die
Entwicklung der Künste in Deutschland nach 1945 im Blick hat. Künstlerische
Reformbewegungen, die nach einer besseren Gesellschaft suchten, trafen auf
beiden Seiten der politischen Blöcke auf Widerstand. Sie verschwanden
in den doktrinären Apparaten der Ostblockstaaten, die an Instrumentalisierung
mehr als an Auseinandersetzung interessiert waren. Im Westen behinderte
der Totalitarismus-Verdacht, der jeden Realismus sofort der braunen oder
roten Diktatur zuordnete, eine realistische Weltsicht in der Kunst. Die
ungegenständliche Form erlebte ihre eigentliche Karriere und dient
bis heute als ein fragwürdiger Freiheitsbeweis der kapitalistischen
Gesellschaft. Verloren ging dabei das Bewusstsein um das Gegenüber
einer Gesellschaft, die es zu verbessern gilt. Es wich einem Verständnis
des „Postismus“, welcher besagt, dass wir uns heute in einer
Nach-Zeit befinden, in der alles Ringen um die Geschichte ein Ende gefunden
hat. Auch die 68er Bewegung beendete ihren Marsch durch die Institutionen
kurz nachdem sie dort angekommen war. Das Wort „ideologisch“
wurde zu der Negativvokabel, in der es heute bedenkenlos verwendet wird.
Um nicht als ideologisch gelesen zu werden, verzog sich die Künstlerschaft
auf den Olymp der autonomen Kunst und geht dort seither einer Praxis der
eitlen Selbstbespiegelung nach. Jeder Künstler will Star oder Diva
sein. Die Inhalte verschwinden hinter den ästhetischen Modehüllen
des Zeitgeists, die laufend erneuert werden müssen, um die gesellschaftliche
Stagnation nicht durchdringen zu lassen. Auch die Wissenschaften ziehen
mit. Jede neue Hülle erhält ihren „differenzierten Wissenschaftsjargon“.
Die hohe Kunst bewegte sich in jenen randständigen Bereich, in dem
sie sich heute befindet. „Theoretiker sprechen zu Theoretikern in
dem vollen Bewusstsein, dass ihnen niemand zuhört.“ Um gesamtgesellschaftliche
Fragestellungen geht es kaum noch, sondern vielmehr um philosophisch abgehobene
Spitzfindigkeiten, mit denen „akademische Lorbeerkränze und Stipendien“
anvisiert werden. Künstler wie Akademiker verstehen sich nicht mehr
als Anwälte einer gerechten Welt, sondern als „Vertreter einer
kulturellen Elite“, der „von Staats wegen noch mehr Freizeit
eingeräumt werden soll, um in Ruhe über ihre eigenen Kultur- und
Theoriebedürfnisse nachzudenken“.
Was die Kunst seither vernachlässigt, ist die Ansprache an die breite
Bevölkerung. Diese bleibt den Massenmedien überlassen, deren ständig
strömende mediale Flut den Kulturkonsumenten kaum noch über den
Augenblick hinaus denken lässt. „Social engineering“ nennt
man die Erziehung des Fernsehzuschauers zu konsumorientierten Lebensmodellen.
Der tägliche Presserummel wird als demokratische „Pluralität“
ausgegeben, ist aber nichts anderes, als die Gleichschaltung zu einem eindimensionalen
Denken.
Hermand beschreibt die Ökonomisierung des Kulturlebens an zahlreichen
Beispielen und zeigt, wie sich unter der zersetzenden Wirkung des Geldes
kulturelle Werte in die Effizienzfaktoren der Warenproduktion verdinglichen.
Kunst und Wissenschaft hat der Trend zur Ökonomisierung wie alle anderen
Bereiche des Lebens erfasst.
Soll die Kunst überhaupt noch eine Chance haben, so muss diese sich
einer gesamtgesellschaftlichen Kritik verschreiben und der Vereinnahmung
durch den Markt widersetzen. Nur wer eine utopisch hoffnungsvolle Perspektive
im gesellschaftlichen Sinne hat und seine Arbeit als eine Didaktische versteht,
der kann laut Hermand auch heute noch bedeutende Kunst hervorbringen. Die
Kunst der Zukunft soll dem ästhetisch wie historisch denkenden Menschen
„sinnliche Gratifikation und ideologische Schubkraft“ geben.
Alle andere Kunst aber darf immer noch darauf hoffen in aller Zukunft aufbewahrt
zu werden: als schlechtes Beispiel für eine degenerierte Gesellschaft
der Vergangenheit.
Jost Hermand „Nach der
Postmoderne“, Böhlau-Verlag, 2004, ISBN 3412128031 |